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Berliner Interdisziplinäres Forum Orientalisches Christentum (BIFOC)

Nubische Handschrift

Nubische Handschrift
Bildquelle: Ms. or. quart 1020

Die Christen sind (noch) ein integraler Bestandteil der Gesellschaften in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Schon im ersten Jahrhundert seiner Entstehung breitete sich das Christentum in dieser Region aus und wurde dort bald zur dominierenden Religion. Auf diese Frühzeit des Christentums führen sich die heute in unterschiedlichen Denominationen mit jeweils eigener theologischer, liturgischer und linguistischer Tradition organsierten Christen zurück. Bis zum 7. Jahrhundert lieferten sie entscheidende Impulse für die Entwicklung und Verbreitung des gesamten Christentums.

Mit dem Aufkommen des Islams gerieten sie jedoch nach und nach unter die muslimische Herrschaft. In der islamischen Lehre ist der Einfluss des orientalischen Christentums erkennbar. Ebenso hat der Islam Einfluss auf die weitere Entwicklung des orientalischen Christentums genommen, sei es auch nur durch die Verstärkung von Abwehrhaltungen.

Aufgrund der historischen Entwicklungen kann die orientalisch-christliche Geschichte ungefähr in vier Epochen unterteilt werden:

 

1) Spätantike und Byzantinisches/Iranisches Mittelalter

Nebeneinander und Konkurrenz Byzanz/Iran

In die Anfangszeit des Christentums fallen die frühsten Auseinandersetzungen zwischen Juden- und Heidenchristen, die Konsolidierung der Kirche und Ämter und eine Auseinandersetzung mit jüdischen und gnostischen Strömungen. Das Christentum boomt und expandiert im gesamten Römischen Reich und darüber hinaus im Sassanidenreich, in Indien, auf der arabischen Halbinsel und in Äthiopien. In der Spätantike entwickeln sich die Nationalkirchen, dies ist die Zeit der dogmatischen Grundsteinlegung und der wichtigsten Kirchenspaltungen (Abspaltung der orientalischen Kirchen). Wichtiges Datum ist die konstantinische Wende und die Herausbildung der römischen Reichskirche im 4. Jahrhundert. Dies geht einher mit der Bildung der umfangreichen christlichen Literatur in griechischer, syrisch-aramäischer, koptischer, altäthiopischer, armenischer und georgischer Sprache.

Vier Patriarchatssitze (Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Konstantinopel) und Klöster bilden die Zentren der theologischen Auseinandersetzung und der kirchlichen Verwaltung im Verbreitungsgebiet des orientalischen Christentums. Auf diese Zentren beziehen sich heute noch die apostolischen Kirchen, die aus den Kirchenspaltungen des 5. und 6. Jahrhunderts hervorgegangen sind und die in drei Kirchentraditionen zusammengefasst werden können:

 

  • Byzantinische Reichskirche
  • Westsyrische Kirche, Armenische Kirche, Koptische Kirche (mit Äthiopien)
  • Ostsyrische Kirche

 

Alle drei Traditionen haben bis in die heutige Zeit ihre Fortsetzung gefunden. Sie haben über die Jahrhunderte in unterschiedlichen Sprachen umfangreiche schriftliche Denkmäler hinterlassen.

 

2) Arabisch-Islamische Zeit

Der Islam hatte bei der Eroberung der christlichen Gebiete den unterworfenen Christen das Recht auf Fortbestand unter islamischer Herrschaft unter der Bedingung ihrer vollständigen Unterordnung zugesichert. Wer fortan im dār al-islām (Haus des Islam) als Nichtmuslim weiterleben wollte, musste sich in allen Belangen dem neuen Hausherrn unterordnen.

Basierend auf den Worten der Verse 29-33 der Sure 9 (at-tawba) des Korans haben die muslimischen Rechtsgelehrten und Herrscher für die Angehörigen der so genannten Buchreligionen (ahl al-kitāb) – also für Juden, Christen und Sabiern, sehr früh ein Regelwerk für das Weiterbestehen im islamischen Herrschaftsbereich geschaffen. Sie standen unter dem Schutz der Herrscher, so lange sie die sog. Ǧizya „Kopfsteuer“ bezahlten, waren jedoch rechtlich nicht den Muslimen gleichgestellt. Dieses System der Abhängigkeit der Nichtmuslime von ihren muslimischen Herrschern und ihre rechtliche Inferiorität wurde mit ḏimmīya bezeichnet und alle, die in den „Genuss“ dieses Schutzes kamen, hießen ḏimmīyūn (Sg. ḏimmī, „Schutzbefohlene“). Damit wurde aus den mit bestimmten Privilegien ausgestatteten „Buchbesitzern“ des Korans die „Schutzbefohlenen“ der späteren islamischen Herrscher.

Zumindest am Anfang wurde dieses System nicht streng ausgelegt. Insbesondere in peripheren und unzulänglichen Gebieten, wo der Islam keinen direkten Einfluss besaß, war die weltliche Herrschaft bemüht, die nichtmuslimischen Untergebenen nicht allzu sehr einzuengen. Denn insbesondere die Christen konnten aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit in einigen Regionen jeweils einen wichtigen Machtfaktor darstellen und sich damit gewisse Freiheiten erzwingen. In diesen Gegenden, wie im Libanon, in einigen Regionen Ägyptens, Syriens und in der Osttürkei, waren die Muslime in der Minderzahl und mussten manchmal sogar die Oberhoheit lokaler christlicher Machthaber akzeptieren.

 

Trotz ihrer grundsätzlichen Benachteiligung konnten sich die Christen bald mit den neuen Herrschern arrangieren. Christliche Literatur und Kultur syrischer-aramäischer, griechischer, armenischer, georgischer, koptischer und bald auch arabischer Provenienz erfährt nach anfänglichem Rückgang eine Renaissance, die bis zum Ende des 14. Jahrhunderts währte. Nicht zuletzt durch die Übertragung der antiken griechischen Literatur anfänglich zunächst ins Syrische und Armenische, dann ins Arabische lieferten die Christen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Entstehung der arabisch-islamischen Kultur. In dieser Zeit entsteht bei den orientalischen Christen auch eine umfangreiche eigenständige, genuin christliche und wissenschaftliche Literatur, die alle wichtigen Gattungen und zeitgenössischen Fragen abdeckt.

3) Osmanisch-Islamische Zeit

Iran ausgenommen, übernehmen ab dem Beginn des 15. Jahrhundert die türkischen Osmanen die Herrschaft über Kleinasien, Thrakien und den Nahen Osten. Auf dem Höhepunkt osmanischer Machtentfaltung erstreckt sich das Osmanische Reich über Teile der drei Kontinente Asien, Afrika und Europa. Die osmanische Herrscherdynastie übernahm teilweise Institutionen und Rechtsauffassungen der byzantinischen Vorgänger, etwa hinsichtlich der Verknüpfung von weltlicher und geistlicher Macht, im Unterschied zu West- und Mitteleuropa, führte aber auch neue Institutionen wie das devşirme („Knabenlese“) ein, die christliche, meist griechische Knaben in das Militär- und Hofwesen des osmanischen Staates zwang. Die zu neuen Elitenbildungen führende „Knabenlese“ erwies sich zugleich als wirksames Instrument gegen die auf das Erb- und Abstammungsrecht begründeten türkischen Stammes- und Adelsdynastien.

 

Das arabisch-islamische Schutzbefohlenen-System der ḏimmīya wird bei den Osmanen zum Millet-System (bis 1923), das nur griechisch-orthodoxe und armenisch-apostolische Christen sowie Juden als Buchnationen bzw. Millets (= Glaubensnation) anerkannte. Erst im 19. Jahrhundert und unter dem Druck Österreich-Ungarns, Frankreichs und Großbritannien werden erst die Katholiken, dann auch die Protestanten als katolik bzw. protestant milleti anerkannt. Die türkisch-republikanische Auslegung des Minderheiten-Paragraphen des multilateralen Lausanner Vertrages knüpft stillschweigend an die osmanische Tradition an (vgl. 1923, Sektion III, § 37-45).

 

Das lange 19. Jahrhundert

Unter dem Druck der europäischen Staaten leiteten die osmanischen Sultane Mahmud II., Abdülmecid I. und Abdülaziz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitreichende konstitutionelle Erneuerungen ein. Dazu gehörte auch die Abschaffung des Millet-Systems. Nach europäischem Vorbild sollten alle Bürger des osmanischen Staates rechtlich gleichgestellt werden. Selbstverständlich wurden solche Reformansätze besonders von Vertretern der Betroffenen unterstützt und mitgetragen.

Mit der ersten und einzigen osmanischen Verfassung (1876) wurden die orientalischen Christen osmanischer Staatszugehörigkeit zum ersten Mal de jure den osmanischen Muslimen in Rechten und Pflichten – wie zum Beispiel der Wehrpflicht – gleichgestellt. Diese Reformbestrebungen, türk. Tanzimat „Neuordnung“, sollten den Niedergang des osmanischen Staates aufhalten und zugleich die Macht des Sultans über bis dahin autonome oder halbautonome Gebiete im Inneren ausdehnen.

In dieser Zeit wurden die christlichen Untertanen von neuen politischen Bewegungen und Ideologien aus Europa erfasst. Es entstehen Nationalbewegungen unter den arabischen, armenischen, griechischen und syrischen Christen, die bisweilen auch von staatlicher Unabhängigkeit träumten. Im Zuge der nationalen Erweckung kommt es zu zahlreichen Schulgründungen durch ausländische Missionsgesellschaften, aber auch einheimischen Christen, die zu einer kulturellen und literarischen Blüte unter den Christen führten.

Offiziell beendete Sultan Abdulhamid II kurz nach seiner Inthronisation 1876 endgültig die Tanzimat-Reformen und hob damit auch das emanzipatorische Grundgesetz seines Staates auf. Im Verlauf seiner langen Regierungszeit (1876–1909) versuchte er, die vielfältigen Probleme des Reiches, darunter zentrifugale, sezessionistische und irredentische Bestrebungen, mit einer pan-islamischen Politik zu lösen, was die Lage der Christen dramatisch verschlechterte und in eine 1894 einsetzende dreißigjährige genozidale Phase mündete, die bis in die Zeit nach der Gründung der Türkischen Republik fortwirkte. Der Genozid von 1915 an etwa drei Millionen indigenen Christen des Osmanischen Reiches führte zu ihrer fast vollständigen Vernichtung auf dem Gebiet der späteren Türkei. Dabei wurden auch materielle Kulturgüter der christlichen Gemeinschaften in erheblichem Umfang gezielt vernichtet.

Das Ende des Osmanischen Reiches wurde nach dem Ersten Weltkrieg im Lausanner Vertrag von 1923 festgeschrieben. Die in diesem Vertrag verbrieften Rechte für die verbliebenen christlichen Minderheiten konnten den Überlebenden des Völkermords den erhofften Schutz nicht bieten. Sie mussten überwiegend ihre Heimat verlassen bzw. wurden durch das bilaterale griechisch-türkische Abkommen von Lausanne zwangsausgebürgert und zwangsausgesiedelt, darunter etwa eine Million griechisch-orthodoxer Christen. Armenische und aramäisch/assyrische Überlebende des osmanischen Genozids verteilten sich auf die neuentstandenen arabischen Staaten, wo sie sich neu organisieren und orientieren mussten.

 

4) Moderne (ab 19. Jh.)

Die orientalischen Christen gehören unterschiedlichen Denominationen an, darunter westkirchliche, aber orthodoxe sowie orientalisch-orthodoxe. Neben Spaltungen, die auf die ersten christlichen Jahrhunderte zurückgehen, entstanden ab dem 16. Jahrhundert durch westkirchliche Mission je ein katholischer und ein evangelischer Zweig der alten Kirchen, was zur weiteren Fragmentierung des orientalischen Christentums führte.

Die westkirchlichen Missionsaktivitäten hatten allerdings auch positive Auswirkungen, in erster Linie Bildungs- und Modernisierungsinitiativen. Die Missionare bauten überall an ihren Wirkungsstätten Bildungseinrichtungen auf; da die Mission von Muslimen staatlicherseits verboten war und Juden sich der westkirchlichen Mission abhold zeigten, konzentrierte sich die westkirchliche Mission vor allem auf die orientalischen Christen, die aus Sicht der westkirchlichen Missionare reform- und modernisierungsbedürftig waren. Dadurch erlebte die christliche Bevölkerung des Orients einen Bildungsaufschwung.

Obwohl alle christlichen Bildungseinrichtungen auch muslimischen Kindern zugänglich waren, profitierten davon in besonderem Maße die christlichen Kinder. Der höhere Bildungsgrad der Christen hatte wiederum zur Folge, dass ihnen der Zugang zum Westen erleichtert wurde, was die Emigration der Christen aus ihrer Heimat in westliche Länder förderte. Durch Restriktionen blieben Christen zudem bis zur „jungtürkischen“ Revolution von 1908 weitgehend vom Staats- bzw. öffentlichen Dienst ausgeschlossen, so dass sie – vergleichbar den europäischen Juden – im Handel und Kommerz überrepräsentiert waren, was unter anderem zur handelsbedingten Vielsprachigkeit führte. Dort, wo Christen im Staatsdienst geduldet wurden, handelte es sich um Berufe wie die des Dolmetschers, in denen der osmanische Staat sich der Fremdsprachenkenntnisse seiner nichtmuslimischen Bürger bediente.

Viele wichtige Protagonisten der sprachlich-literarischen Renaissance des 19. Jahrhunderts (an-nahḍa) in der arabischen Welt waren Christen. Diese Bewegung führte zu einer, alle gesellschaftlichen Gruppen einenden, arabisch-ethnischen Identität. Hierbei ging es um die Formulierung einer „nationalistischen“ Ideologie, die auf der gemeinsamen arabischen Sprache, Geschichte und regionalen Kultur basierte und sich der herrschenden türkisch-osmanischen Herrschaft gegenübersah.

Dabei wurde erreicht, dass die Bedeutung der religiösen Unterschiede zwischen Christen, Juden und Muslimen, auf der bis dahin das osmanische Gesellschaftsmodell basierte, verwischt wurde. Eine neue pan-arabische Ideologie entstand, deren wichtigste Stützen die arabische Sprache und Kultur bildeten. Diese Ideologie führte zur Gründung pan-arabischer Parteien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in einigen arabischen Ländern zur Macht kamen, darunter die heute noch herrschende Baath-Partei in Syrien. Auch an der Gründung dieser Parteien waren Christen an vorderster Front beteiligt. Die Christen wurden unter der pan-arabischen Ideologie zum ersten Mal seit der islamischen Eroberung ihrer Heimat im 7. Jahrhundert nicht mehr als Schutzbefohlene, sondern als gleichberechtigte Bürger (Irak, Syrien, Libanon) angesehen.

Die streng laizistische Ideologie der Baath-Partei in Syrien (und im Irak) bot den Christen und anderen Minderheiten absolute Gleichberechtigung mit der muslimischen Mehrheit. Nirgendwo sonst in den islamischen Staaten hatten die Christen solch eine Stellung genossen. Die Bedingung für diese Freiheiten war die vollständige Loyalität der Kirchen und ihrer Führung gegenüber der Staatsmacht.

 

Gegenwart

Im Vorderen Orient leben heute rund 20 Millionen Christen. Sie sind ein integraler Bestandteil der orientalischen Gesellschaften, auch wenn ihre Zahl, vor allem im 20. Jahrhundert, stark zurückgegangen ist, und sie aus manchen Ländern aufgrund von Vertreibung und Diskriminierung (wie z. B. in Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko, dem Iran und der Türkei) fast verschwunden sind. Die orientalischen Christen stellen in der Regel die Urbevölkerung ihrer Länder dar. Sie haben über Jahrhunderte mit ihrer Kultur und ihrem Wissen diese Länder nachhaltig geprägt. Das gilt in besonderer Weise für Mesopotamien, die Levante und Ägypten, wo die Christen teilweise heute noch die alten Sprachen dieser Region, das Aramäische bzw. Koptische pflegen.

Der Sturz des Regimes im Irak im Jahre 2003 hatte die Christen des Landes zur Zielscheibe unterschiedlicher fanatischer Organisationen gemacht. Tausende Christen wurden ermordet, zahlreiche Geistliche entführt und auf besonders grausame Weise hingerichtet und Hunderttausende Christen aus dem Land vertrieben. In dieser Zeit hat die teilweise Liberalisierung der Medien vor allem des Satellitenfernsehens in den arabischen Ländern Dutzende religiöse Sender hervorgebracht, die Intoleranz gegenüber Andersgläubigen, Christen und auch liberalen Muslimen, predigten. Religiöse Intoleranz, ein für Syrien neues Phänomen, die zu der ohnehin schwierigen politischen Lage kam, zwang viele Christen, ihre Heimat zu verlassen. Als ab 2011 die Massenproteste gegen die arabischen Regime begannen und bald zusätzlich islamistische Züge zu Tage brachten, konnte sich die überwiegende Mehrheit der Christen damit nicht mehr identifizieren.

Im syrischen Bürgerkrieg spielen seit 2012 die gemäßigten Kräfte keine Rolle mehr. Dominiert wird die kämpfende Opposition von unterschiedlichen islamistischen Brigaden, die einen radikal-islamischen Staat in Syrien und Irak propagieren. Diese verübten viele grausame Verbrechen gezielt an der christlichen Bevölkerung. Sie entführten Geistliche, eroberten christliche Ortschaften und bis dahin christlich dominierte Gebiete und massakrierten oder vertrieben die Bevölkerung. Aus Angst vor religiösen Fanatikern ist die überwiegende Mehrheit der Christen aus dem Irak und Syrien ins Ausland geflüchtet. Eine Rückkehr in ihre Heimat können sich nur noch wenige vorstellen.

Inzwischen gibt es überall in westlichen Staaten, insbesondere in Europa, große und immer noch wachsende Diasporagemeinden orientalischer Christen. Auch in Berlin hat eine große Anzahl orientalischer Christen eine neue Heimat gefunden. Gemäß ihrer Tradition aus den Herkunftsländern feiern jeden Sonntag die Syrisch-Orthodoxen, Rum- und Griechisch-Orthodoxen, Armenier, Kopten und Äthiopier ihre jeweiligen Gottesdienste.

Schlagwörter

  • Christen
  • Orient
  • Orientalisches Christentum